"vakuum", annette roggatz

“vakuum – von Ausdehnung bis Leere”
Dr. Annette Roggatz
Mein sehr verehrten Damen und Herren,
Vakuum, vom lat. Adjektiv vacuus, leer, ist Nichts.
Insofern:
Herzlich willkommen im Nichts!
Es ist ein außerordentlich mutiger Schritt von Ihnen gewesen, hier einzutreten, denn das Vakuum der Philosophen ist absolut: ohne Ausdehnung und ohne Leere (die um nicht gefüllt zu sein auch raumhaltig sein müsste).
Aber, welch Glück, es gibt ja auch die physikalische Dimension des Vakuums mit den Möglichkeiten von Ausdehnung und Leere.

Mit einer Gemeinschaftsarbeit, die diese physikalische Dimension des Vakuums zum “Inhalt“ hat, begrüßen die in Peine und Paris arbeitende Künstlerin Sabine Pinkepank und der Hannoveraner Künstler Franz Betz den Besucher. Schon von außen sind diese transparent bis opaken, amorphen Objekte an den Fensterscheiben sichtbar. Rote Klebekreuze geben den amöbenhaften Gebilden wie Haftfüße am Glas halt.
Es sind Vakuumsäcke, gefüllt mit unterschiedlichsten Dingen des jeweiligen Atelier-Alltags: Luftpolsterfolien, Arbeitshandschuh, Kabelabschnitte, eine Betz’sche Vliesdecke, Folien mit Klebstoffresten und Farbe, die Abdeckfolie des Pinkepank’schen Maltisches nach gut zweijährigem Dienst – vakuumisiert und damit haltbar gemacht für eine ferne Zukunft. Der Kobold, ein altes Staubsaugermodell, ist als Werkzeug für diesen konservatorischen Akt mit ausgestellt – ein Sinnbild für Ausdehnung und Leere.
Doch nicht die Ironie zukünftiger archäologischer Schaustücke ist Inhalt dieser Arbeit. Der Fokus der beiden Künstler gilt dem Prozess der Verwandlung:
Der Inhalt dieser Vakuum-Module verändert sich: Eine wild gefaltete dünne Abdeckfolie bekommt die Anmutung einer mehrlagigen Seide. Ein Beispiel von vielen – forschen Sie selbst.
Auch die Vakuumsäcke verwandeln sich, wenn die Luft herausgezogen wird: ihre Folienwände – ursprünglich flexibel – verbinden sich vakuumisiert miteinander und mit ihrem Inhalt zu einem kraftschlüssigen Verbund zu einer ganz neuen konstruktiven Steifigkeit (noch baut der ursprünglich als Architekt ausgebildete Künstler Franz Betz daraus keine Häuser). In dem Gemeinschaftswerk Vakuum wölben sich die vakuumisierten Elemente zum Teil auf und scheinen – je nach Blickwinkel – wie Inkrustationen aus dem Glas herauszuwachsen. Im Wechsel von Tag- und Nachtgesicht offenbaren sich die Module in Aufsicht oder Durchsicht, wobei die Durchsicht den Objekten wie die Taschenkontrolle am Flughafen ein unbekanntes, verwandeltes Wesen entlockt.
Und mit dem Aspekt der Verwandlung springen die Künstler nun doch – jeder auf seine Weise – in das Bodenlose des philosophischen Nichts. Bodenlos weil ohne Maßstäbe und Dimensionen, ist dieses philosophische Vakuum wohl ziemlich öde und eher lebensfeindlich. Das Nichts, betreten aus dem menschlichen Sein heraus, ist keineswegs von alleine schön. Freiheit und Reinheit als mögliche Ausprägungen von Leere brauchen Raum um sich entfalten zu können.
Franz Betz beschreitet in “Die Vermessung der Lichtlinie“ einen ganz pragmatischen Weg: er führt Maßstäbe ein – die Gitterboxen.
Modulhaft, wie häufig in seinem Werk, bilden die Gitterboxen auch untereinander einen Raum – stehen in Beziehung, eine unbekannte Welt mit unbekannter Ausdehnung.
Die innere Welt, die er erkundet enthält Elemente, die aus seinem Werk, schon bekannt sind: Vliesdecken, die (neben der Anspielung auf Beuys) auf unser Nomadentum in dieser Welt anspielen, in der wir alle keine bleibende Statt haben, rotes Tape und Spanngurte.
Ähnlich wie die Protagonisten Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß im Roman “Die Vermessung der Welt“ von Daniel Kehlmann in einer Zeit, in der die Welt neu vermessen wurde, in ihren Studierstuben versuchen die Welt messbar zu machen, sucht Franz Betz ein Konzept zu kreieren um das Innere zu vermessen. “Die Kartographie“, so sagt er, “interessiert mich schon seit langem“.
Und so fixiert er in einer der dreidimensionalen Gitterboxen als Bezugssystem für die freien Lichtlinien ein Ordnungssystem aus einem blauen Spanngurt und Fokusierhilfen, mit denen er die Vermessungsebenen in diesem neuen, inneren Raum nachvollziehbar festlegt.
Und in den übrigen Gitterboxen schweben, blau leuchtend und nur provisorisch mit rotem Spanngurt fixiert, flexible LED-Lichtschläuche, sogenannte Light-Tubes – der Mittelpunkt dieser Installation.
Materiell an die Light-Tubes gebunden sind die Lichtlinien selbst frei von Substanz, von Schwerkraft und Raum. Zudem sind diese in ihrer Spontaneität frei und höchst unregelmäßigen, z.T. sogar verworren geformten Lichtlinien ohne System und deshalb für den Betrachter nur gefühlt begreifbar. – Mit seiner Arbeit “Die Vermessung der Lichtlinie“ stellt der Künstler Franz Betz ein äußeres Konzept zur Verfügung für den ewigen Diskurs zwischen Wissen und Fühlen.
Bei Sabine Pinkepank findet sich das Modulhafte der technischen Gitterboxen wieder in der Bodenarbeit “Lager“ aus 16 Raupenrinnen über weißer Leinwand. Im Vordergrund steht hier, wie bei der Gemeinschaftsarbeit “Vakuum“ die Verwandlung eines nicht aus dem Alltag wiedererkannten Objektes zwischen fellartig weichem optischen Effekt beim Vorrübergehen und einer extrem stacheligen Oberfläche in der statischen Betrachtung – auch hier, wie bei “Vakuum“ sucht der Geist Maßstäbe für die eigene Aneignung, denn wer kennt schon diese langen Reinigungsbürsten für Dachrinnen aus eigener Anschauung.
Vierecke sind im Werk der Künstlerin Sabine Pinkepank seit 15 Jahren ein wichtiges Thema. In der Werkgruppe “Einfache Ausdrücke“ finden sich Quadrate und zwischen ihnen ein zweidimensionales Gitterraster. Ist dieses Gitterraster vergleichbar mit demjenigen in “Die Vermessung der Lichtlinie“ von Franz Betz?
Die Arbeiten von Sabine Pinkepank sind gehalten in lichtem Ocker, Neapelgelb, Weiß, also in hellen Naturtönen, z.T. grundiert mit Acryl in Rot, Blau und Violett. Sie sind direkt aus der Tube gearbeitet, ohne Palette, nur gelegentlich die nächste Leinwand als Palette nutzend.
Um das Gitterraster in den PinkepankŽschen “Einfachen Ausdrücken“ in ihrer Bedeutung zu ergründen, empfiehlt sich, ein Blick auf die ihnen voran gehenden sogenannten Schmierbilder zu werfen, von denen die Farbpalette der “Einfachen Ausdrücke“ entlehnt ist – ein Rückgriff, durch den klar wird, dass die Annäherung der Künstlerin an die rasterhafte Auflösung von Welt weniger konzepthaft als vielmehr innig emotionaler Natur ist.
Material der Arbeiten ist ein Gemisch aus Eisenstaub, Schmiere und Öl. Es stammt aus den stillgelegten Waschkauen der Stahlwerke Peine: zusammengekehrt, -gebürstet, -gekratzt als Sabine Pinkepank dort vor zehn Jahren ihr Atelier einrichtete. Dreck also, von der Künstlerin zunächst achtlos zusammengefegt, der für sie jetzt etwas ganz besonderes geworden ist: Zeugnis der Aneignung eines Raumes, der nach Verlust seiner ursprünglichen Nutzung in ein Vakuum gefallen war. “Das Werk“, eine Arbeit mit großer Tiefe und Dichte, zeugt schon im Titel von der Auseinandersetzung mit dem Ort. Ebenso “Entlaufene Elefanten“, beides Eisenstaub und Öl auf Leinwand. Letzteres erinnert im Titel humorvoll an die gigantischen Dimensionen der vergangenen Werksgeschichte – mit seinen Verlaufsspuren und Farbgebung spontan in großer Könnerschaft auf die Leinwand gebracht.
Die Serie “Einfache Ausdrücke“ mit ihren Quadraten und Gitternetzen rückt vor diesem Hintergrund einer persönlichen Aneignung und einer nachfolgend schematisch spontanen Wiedergabe in die Nähe der dreiteiligen Neonarbeit auf Acrylglas von Franz Betz: “EGO“.
Während Franz Betz sich in “Die Vermessung der Lichtlinie“ mit der notwendigen und ständigen Vergewisserung eigener innerer Maßstäbe beschäftigt, die wir alle brauchen um uns selbst einen Raum zu geben, agiert “EGO“ auf der Kommunikationsebene – nicht nur wegen des humorvoll gesetzten und geschriebenen Titels: Bei “EGO“, diejenigen die Franz Betz schon kennen ist es eingehend bekannt, handelt es sich um die Buchstaben E,G und O des Alphabetz, einer persönlichen Codierung des Alphabets, entstanden 2006. Der Künstler hat jeden Buchstaben in spontanem individuellem Strich in seinen ganz persönlichen Kontext gesetzt – ein Vorgang, den wir alle machen, wenn wir uns abstakte Begriffe wie Tisch, Stuhl, Wand etc. aneignen – jeder von uns gefangen und frei in der Welt seiner individuellen Wahrnehmung.
Von Franz Betz ist dieser Vorgang als persönliche Konnotation von bedeutungsfreien Buchstaben, die er im Alphabetz als individuelle Ausprägung wieder allgemein zur Verfügung stellt, freilich zeichenhaft und mit einem Augenzwinkern auf die Spitze getrieben.
Wie steht es also mit dem “Vakuum zwischen Ausdehnung und Leere“?
In unserer Zeit, die mit ihren großen Umbrüchen wirtschaftlicher, sozialer, globaler und damit auch privater Art tatsächlich einer neuen Vermessung bedarf, ist jeder von uns aufgefordert, die Maßstäbe des eigenen inneren Vakuums neu zu bestimmen, um sich selbst in seiner Welt und in Gemeinschaft mit anderen frei und leicht bewegen zu können.
Franz Betz und Sabine Pinkekpank geben uns Anregungen. Folgen sie dem Wind in “Round to edge“, einer Arbeit von Franz Betz mit zwei Windmaschinen: Wind ist immer richtungsgebend in die eine Richtung. Auf seiner “Rückseite“ entsteht eine Art Vakuum – gefährlich oder weltschaffend?
Ich wünsche Ihnen viel Freude in der Freiheit des Vakuums als einer Leere mit Ausdehnung.
Vortrag von Dr. Annette Roggatz
anlässlich der Eröffnung der Ausstellung “Vakuum“ von Sabine Pinkepank und Franz Betz in der GalerieN, Nienburg am 18. April 2009


Dr. Annette Roggatz arbeitet unter dem Namen querformat als freie Kunsthistorikerin in den Bereichen Kunstgeschichte, Denkmalpflege
und Ausstellungskonzeption in Hannover